Neben Goethe, Schiller und Co. hat Deutschland eine wirklich besondere Leidenschaft entwickelt – die Bürokratie. Von der Geburt bis über das Grab hinaus: Anträge, Erklärungen, Bescheide, Verordnungen – kaum ein Schritt im Leben eines Bürgers oder einer Bürgerin, der nicht von Papierkram begleitet wird.
Bürokratie in Deutschland hat viele Gesichter, aber eines ist klar: Sie ist immer das!
Beginnen wir also vorne – werfen wir einen Blick in die Historie:
Bürokratie hat tiefreichende historische Wurzeln, die bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichen. Es begann im altehrwürdigen Preußen.
Der preußische König Friedrich Wilhelm I. – der Soldatenkönig – schuf eine Verwaltung, die mit Disziplin, Gehorsam und klaren Strukturen das Land stabilisieren und effizienter machen sollte.
Sein Sohn, Friedrich der Große, war der Auffassung, dass eine straff organisierte Verwaltung der wahre Grundpfeiler eines funktionierenden Staates sei. Ordnung, Sicherheit und Kontrolle wurden zum Leitmotiv. Jeder Schritt wurde bis ins Detail geplant, dokumentiert und (selbstverständlich) abgestempelt. Ordnung, Gründlichkeit und der Glaube an die Macht von Vorschriften prägten das deutsche Verwaltungssystem. Beamte wurden zu angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft – sie repräsentierten Stabilität und Zuverlässigkeit.
Dies ging so weit, dass „Bürokratie“ zum Herzstück des Staates wurde – und diese Tradition hat sich verinnerlicht, erweitert und bis heute gehalten.
Diese preußische Grundstruktur der Bürokratie setzte sich im Deutschen Kaiserreich fort. Mit dessen Gründung 1871 unter Otto von Bismarck wurde die Bürokratie. Er wollte die Bürokratie professionalisieren. Eine zentralisierte Verwaltung sollte das neue und geeinte Deutsche Reich stabilisieren – und kontrollieren.
Bismarck war löblicherweise ein Vordenker des modernen Wohlfahrtsstaates und führte Sozialversicherungen für Kranken-, Unfall- und Altersversorgung ein.
Aber – die Meinung wuchs, dass Sozialversicherungssysteme brauchten einen effizienten Verwaltungsapparat, der zur Betreuung, Prüfung und Auszahlung der Leistungen befähigt war – und damit wuchs auch die Bürokratie stark an.
Ein weiterer „deutscher Bürokratie-Stein“ nahm Gestalt an: Beamte wurden zu hoch angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft. Ein Beamtenstatus versprach Stabilität und war ein Symbol von Integrität und Status. In dieser Zeit manifestierte sich eine „Beamtennation“, in der der Dienst am Staat als ehrenhafte Berufung und unverzichtbare Aufgabe galt. Der Respekt vor Amt und Vorschrift wurde tief in die Kultur eingeschrieben – und genau diese Mentalität wirkt heute wie ein Monster.
Die neue demokratische Regierung der Weimarer Republik sah sich mit enormen Herausforderungen konfrontiert: politische Instabilität, wirtschaftliche Krisen und soziale Unruhen forderten schnelle Lösungen. Auch wenn sie einerseits die inzwischen traditionalisierte deutsche Verwaltung gewährleisten wollte, da sie Stabilität und Ordnung versprach, war genau diese Bürokratie oft zu träge, zu ineffizient und inzwischen war auch der Einfluss alter elitärer Verwaltung zu dominant und einflussreich.
Dies führte zu einem tiefen Misstrauen gegenüber der Bürokratie und zu einem zunehmenden Ruf nach Reformen und mit neuen demokratischen Strukturen wurde versucht, den Einfluss der alten elitären Verwaltung zu überwinden. Doch die Versuche, die Bürokratie zu modernisieren und zu entpolitisieren, blieben weitgehend erfolglos.
Vor einem Schalter stehen: das ist das deutsche Schicksal.
Hinter dem Schalter sitzen: das ist das deutsche Ideal.Kurt Tucholsky
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten 1933 erlebte die Bürokratie einen dramatischen Wandel. Anstatt reformiert zu werden, wurde die Verwaltung von den neuen Machthabern instrumentalisiert, um die totalitären Ziele des Regimes durchzusetzen. Die alte preußische Disziplin wurde mit einem fanatischen Gehorsam gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie kombiniert. Der bürokratische Apparat wurde nun zur Werkbank für die Durchführung von Massenverfolgung und -kontrolle, wobei die Bürokratie in den Dienst des autoritären Regimes gestellt wurde. Die vermeintliche Stabilität und Effizienz der deutschen Bürokratie verwandelten sich in ein Werkzeug der Unterdrückung und Gleichschaltung. Eine Verwaltung, die düstere Geschichte Deutschlands nachhaltig prägte.
Ohne ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass der Nationalsozialismus die deutsche Bürokratie nicht nur nutzte und missbrauchte, sondern sie auch entscheidend umformte, um seine autoritäre Herrschaft zu etablieren, die Bevölkerung zu kontrollieren und seine mörderischen Ziele zu verwirklichen. Diese Ausnutzung der Bürokratie führte zu einer beispiellosen Repression und Gewalt, die nicht nur das deutsche Volk, sondern auch Millionen von Menschen in Europa und darüber hinaus betroffen hat.
In der Nachkriegszeit und der jungen BRD wurde die Bürokratie in Westdeutschland demokratisiert und den Bundesländern viel Macht übertragen.
Das föderale System Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg sorgt dafür, dass viele Entscheidungen und Verwaltungsaufgaben auf die Landesebene verteilt sind.
- Vorteil: Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus sollte Macht dezentralisiert und lokal angepasst werden.
- Nachteil: Das deutsche System wird durch unterschiedliche Landesgesetze immer komplexer und schwerfälliger und blockiert sich in wichtigen Veränderungen massiv selbst. Fortschritt bleibt dadurch häufig auf der Strecke.
Der Beamtenstatus wurde auch nach dem Krieg beibehalten. Er sollte die neue soziale Demokratie organisieren und unterstützen. Vorschriften und Regelungen sollten die Gleichheit und die Sicherheit der Bürger*innen garantieren. Eigentlich!
Die nächste Haltestelle stellt die Wiedervereinigung von 1990 dar. Der gesamte bürokratische Apparat der DDR musste in das westdeutsche System integriert werden. Da die neuen Bundesländer das westdeutsche System vollständig übernahmen, machte dies eine massive Umschulung und Integration der ehemaligen DDR-Beamten notwendig. Von der Sozialhilfe über das Gesundheitssystem bis zur Justiz musste alles neu organisiert und angepasst werden. Der damalige Verwaltungsaufwand war gigantisch.
Damit wären wir bei der aktuellen Gegenwart der deutschen Bürokratie angelangt. Bevor wir aber beginnen uns damit differenzierter auseinanderzusetzen, möchte ich – im nächsten Teil – noch einen Schritt in eine Welt vor Deutschland setzen, denn die Ursprünge liegen weit zurück und sind mit der Entwicklung zentralisierter Macht eng verbunden.

