Zu weit gedacht!
Anna war in der 11. Klasse. Sie mochte Physik und hatte eine Idee. Damit allerdings begann das Problem. Sie kann nicht mehr sagen, wie sie eigentlich darauf gekommen war, damals sah sie es glasklar vor sich.
Sie stellte eine Gleichung Einsteins infrage – aus ihrer Sicht war die Zeitumkehr falsch angewendet. Sorgfältig rechnete sie mit Vektoren.
Konnte es sein, dass Einstein ein Denkfehler unterlaufen war?
Zwei Wochen später präsentierte sie ihr Ergebnis im Unterricht. Ihre Lehrkraft sah sie erst irritiert an, um sie dann hart anzugehen: „Das ist Quatsch! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir keine Zeit eingeräumt, um das hier zu zeigen!“ Einige Mitschüler*innen lachten. Die Klassenbeste in Physik brüllte sie an: „Du wirst nicht Einstein widerlegen – du nicht!“
Eigentlich hatte sie noch eine weitere Idee – zur Rotation und den Mittelpunkt des Sonnensystems – aber Anna schwieg. Dabei hatte sie sogar Skizzen vorbereitet.
Der Rest der Stunde rauschte in einem Nebel an ihr vorbei.
Einige Monate später erschien in einer Fachzeitschrift ein Artikel, der genau denselben Denkfehler Einsteins aufgriff und korrigierte.
Anna brachte die Zeitschrift mit zum Unterricht. Die Lehrkraft wollte sie nicht sehen und tat sie als unseriös ab.
Zuhause warf sie ihre Berechnungen und die Zeitschrift fort. Sie distanzierte sich von ihrem eigenen Denken. Im folgenden Halbjahr sanken Annas Noten. Sie war erleichtert, Physik für den Rest der Schulzeit abwählen zu können.
Auch das sind Anzeichen – und subtile Formen – patriarchaler Strukturen.
Was Anna erlebte, war kein Einzelfall. Es war nicht bloß ein Moment der Kränkung, sondern Ausdruck einer viel tiefer liegenden Struktur. Ihre Gedanken wurden nicht deshalb zurückgewiesen, weil sie fehlerhaft waren – sondern weil man sie ihr nicht zutraute oder ihr nicht zugestehen wollte.
Diese Erfahrung steht für das, was vielen Mädchen – und auch Jungen – geschieht, wenn sie nicht ins System passen. Wenn sie klüger, freier, weiter denken als vorgesehen.
Anna hatte etwas erlebt, das viele Frauen kennen: Die Entwertung weiblicher Kompetenz – besonders dann, wenn sie sich außerhalb des Erwartbaren bewegt.
Nicht, dass jemand sagt „Du darfst das nicht“, sondern dass alle denken: „Das kannst du nicht – jedenfalls nicht du.“
Und das Schlimmste: Viele nehmen es nicht einmal wahr. Nicht die Lehrkraft, nicht die Klasse, nicht mal Anna selbst.
Anna wurde nicht argumentativ widerlegt, sondern emotional kleingemacht. Durch die Reaktionen von Lehrkraft und Mitschüler*innen wurde ihr vermittelt, sie sei unwissend, naiv und überheblich. Sie selbst begann, an sich zu zweifeln.
Strukturen, die klein machen!
Das ist kein persönliches Versagen. Das ist ein strukturelles Trauma, das viele intelligente Menschen – besonders Frauen – erleben, wenn sie sich außerhalb der „erlaubten“ Rolle bewegen. Auch das ist eine subtile Form patriarchaler Struktur. Denn was in Klassenzimmern beginnt, setzt sich oft fort – in Universitäten, Büros, Redaktionen, Gremien. Frauen, queere Personen und Männer, die sich nicht in das klassische Männlichkeitsbild fügen, stoßen immer wieder auf dieselbe unsichtbare Schranke: Ihnen wird zugehört – aber nicht geglaubt. Sie sprechen – aber gelten nicht als kompetente Stimme. Sie denken klug – aber „überschreiten den Rahmen“.
So wirkt das Patriarchat nicht nur durch offene Ausgrenzung, nicht durch offene Gewalt, sondern durch dauerhafte Unterminierung von Glaubwürdigkeit. Und genau deshalb sind Frauen in Führungspositionen auch heute noch unterrepräsentiert. Nicht, weil es ihnen an Fähigkeiten fehlt – sondern, weil ihnen die gesellschaftliche Deutungshoheit über ihre Kompetenz abgesprochen wird.
Die Frage ist nicht: „Ist das Argument richtig?“ – sondern: „Von wem kommt es?“
Begriffe für das Unsichtbare
Epistemische Ungerechtigkeit (nach Miranda Fricker)
Strukturelle Abwertung: Menschen wird weniger Glaubwürdigkeit zugesprochen – nicht wegen ihrer Aussage, sondern aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht, Klasse oder Herkunft.
→ Nicht das Argument zählt – sondern, wer es sagt.
Implizite Biases
Unbewusste Vorurteile und stereotype Erwartungen, etwa: „Mädchen sind sprachlich, Jungs logisch.“ Diese wirken, ohne dass es den Beteiligten bewusst ist – aber mit realen Folgen.
Symbolische Gewalt (Pierre Bourdieu)
Sanfte, gesellschaftlich akzeptierte Abwertung: keine offenen Verbote, sondern Nichtbeachtung, Lächeln, Entwertung, Schweigen. Und das Schlimmste: Sie wird von den Betroffenen oft selbst übernommen.
Diese Muster sind nicht willkürlich – sie sind eingeübt, tradiert, weitergegeben.
Und sie greifen besonders stark, wenn Menschen nicht in das Erwartungsmuster ihrer Rolle passen.
Es ist ein System von Erwartungen, Zuschreibungen und Deutungsmacht, das darüber entscheidet, wer gehört wird – und wer nicht.
Was als kleine Kränkung beginnt – ein Lachen, ein Stirnrunzeln, ein Entzug von
Aufmerksamkeit – kann auf Dauer Selbstwert, Mut und Handlungsspielräume massiv beschädigen.
So wie bei Anna.
So wie bei vielen anderen.
Ich wünsche mir eine Welt, in der Mädchen wie Anna ermutigt werden, zu denken.
Weit, klar, unbequem: Eine Welt auf Augenhöhe!

