What about …

Vor zwei Jahren – an einem siebten Oktober – begannen Terrororganisationen aus Gaza mit unvorstellbaren, unsagbaren Grausamkeiten den Gaza-Krieg. Ein Menschheitsverbrechen, das den größten und schrecklichsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust darstellt. Und seit zwei Jahren sind Menschen verschleppt, die unter schlimmsten Bedingungen gefangen gehalten werden. Erniedrigt, gequält, ermordet.

Dem Gedenken an die Opfer dieser Gewalt-Eskalation begegnete Daniel Bax in einem Artikel in der taz mit folgendem Satz: „Zum Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas wurde offiziell der Opfer in Israel gedacht. Palästinenserinnen und Palästinenser blieben außen vor. Warum?“

Was zunächst wie eine Frage klingt, ist viel eher eine altbewährte Taktik aus der Trickkiste unfairer Rhetorik: Der Whataboutismus. Von „What about …?“ – „Was ist eigentlich mit …?“

In Diskussionen kann so mit einer Gegenfrage das komplette Thema gedreht werden. Auch in Artikeln und Kommentaren dient der Whataboutismus gerne dazu, vom eigentlichen Thema abzulenken oder es zu relativieren, indem man – oft schiefe – Vergleiche ansetzt. Schreibt man z.B. einen Artikel über Feminismus, gibt es garantiert irgendeinen, der mit „Aber es gibt ja schließlich auch Männer, die von Frauen diskriminiert werden“ kontern will. Was nur scheinbar mit dem Thema zu tun hat, in Wirklichkeit aber an dieser Stelle völlig deplatziert ist. Whataboutismus lässt nichts gelten, er will die Diskussion unter dem Vorwand der „Ausgewogenheit“ bewusst entgleisen lassen. Man müsse doch auch die Gegenseite hören, heißt es dann.

Aber ist das so? Müsste man – um ein Beispiel zu nennen – in einem Essay über die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg zwangsläufig auch die Bombardierung von Hamburg oder Dresden durch die Alliierten thematisieren? Wäre es nötig, in einer Dokumentation zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee anzuführen, dass diese ja in Ostpreußen schwerste Kriegsverbrechen begangen hat? Darf man der Opfer des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine gedenken, ohne unbedingt einfügen zu müssen, dass es ja in der Ukraine schließlich auch Nazis gebe? Und muss das sprachlose Entsetzen über Hiroshima und Nagasaki zwanghaft auch Pearl Harbor mit anführen? Wohlbemerkt: Man kann und darf das alles thematisieren. Aber muss es an dieser Stelle sein?

Manchmal – glaube ich – wäre es so viel besser, die Finger auf der Tastatur mal stillzuhalten. Eine Sache einfach so anzunehmen wie sie ist, sich mit einem singulären Thema zu beschäftigen, ohne es aufweichen, relativieren oder verzweifelt in irgendeinen Kontext zwingen zu wollen.

Und das hat noch nicht einmal etwas mit der politischen Überzeugung zu tun; da geht es eher um die Frage, wie menschlich wir eigentlich noch sind und ob wir überhaupt noch einen moralischen Kompass haben. Man darf gerne geteilter Meinung darüber sein, auf welche Weise Israel sich verteidigt und ob dieser Krieg verhältnismäßig ist oder sein kann. Man kann zu Benjamin Netanjahu stehen wie man will und man kann die Politik seiner rechtsradikalen Minister Ben-Gvir und Smotrich in aller Schärfe kritisieren – tausende Israelis tun genau das jede Woche in den Straßen des Landes.

Aber wenn es zu solchen Grausamkeiten kommt wie am 7. Oktober, wenn tausende Zivilisten, die für niemanden eine Bedrohung waren – mitten im Frieden – auf grausamste Art gequält, verbrannt, verstümmelt, vergewaltigt und verschleppt werden, nur weil sie Bürger eines bestimmten Landes sind oder dafür gehalten werden, dann muss es auch mal ohne ein „ja, aber …“, ohne „aber der oder die hat doch …“ und ohne „aber man muss doch auch bedenken…“ gehen.

Nichts – wirklich nichts – rechtfertigt, was geschehen ist und bis auf den heutigen Tag geschieht. An der harten Realität des 7. Oktober kommen wir nicht vorbei. Und wir dürfen auch nicht daran vorbeikommen, wenn wir es wirklich ernst meinen und auch ernst genommen werden wollen. Und dann verstehen wir vielleicht auch, dass ohne diesen Tag der Grausamkeit so viele Menschen noch leben könnten, in Israel wie auch in Gaza.

Kein Mann, keine Frau und kein Kind hat einen solchen Tod verdient. Nicht in Israel, nicht in Gaza, nicht in Bucha in der Ukraine, nicht in Dresden, in Hiroshima und nicht in Babyn Jar.

Hört auf, zu relativieren, zu erklären und nach Entschuldigungen zu suchen.
Schaut hin!